STRATEGIE

Der grüne Schein trügt ...

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Die Zeit der platten Slogans ist passé, denn Klimawandel und die Mechaniken der digitalen Welt lassen die Zahl der kritischen Konsument:innen stetig anwachsen. Viele große Unternehmen reagieren auf die Klimafrage, die LGBTQ-Bewegung, Black Lives Matter und die Corona-Pandemie auch durch Änderungen im Markenauftritt: Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung werden stärker kommuniziert.

Die Superposition von Unternehmen

In der Quantenwelt beschreibt die sogenannte Superposition, dass die Position eines Teilchens nicht definierbar ist, solange man es nicht misst. Erst durch Messung oder  Beobachtung kann seine Position bestimmt werden. Ähnlich verhält es sich mit der Haltung von großen globalen Unternehmen: Erst, wenn sie unter Beobachtung stehen, tun sie genau das, was die Gesellschaft von ihnen erwartet. Man erhält den Eindruck, dass viele Unternehmen sich nach wie vor in einer Art Reaktions-Haltung befinden, anstatt sich tatsächlich neu auszurichten. Statt sich wirklich mit ihren Geschäftsmodellen zu befassen und diese nachhaltiger auszurichten, rücken medienwirksame Maßnahmen und Versprechungen in den Fokus. Dass hier oftmals eine Diskrepanz entsteht, spüren die Konsument:innen – die Glaubwürdigkeit der Marke leidet. Immer mehr – vor allem junge – Konsument:innen interessieren sich für Nachhaltigkeit und dafür, wie etwas produziert wird. Deshalb hinterfragen sie zunehmend die Botschaften von Unternehmen.

In einer immer komplexer werdenden Welt, die voller Fake News und Verunsicherung steckt, vertrauen die Menschen Betrieben wie dem Bauern aus ihrer Region. Sie bevorzugen persönliche Ansprache statt Robotermarketing und Massenmails. Im Gegensatz zur Globalisierung werden Regionalität und Lokalität immer wichtiger. Das liegt einerseits daran, dass die Folgen des ungebremsten Konsums auf unserem Planeten immer stärker sichtbar werden – andererseits verbreiten sich die Folgen dieses Konsumverhaltens in unserer digitalen Welt wesentlich leichter als vor der Erfindung des Internets.

Dass hier viel falsch läuft, weiß jede:r. Wenn der eigene Konsum die Zukunft der Kinder negativ beeinflusst, fühlt sich das nicht gut an. Was das Kaufverhalten anbelangt, führt dies zu einer gewissen Ambivalenz: Viele Menschen verurteilen vielleicht, wie ein großer Online-Versandhändler seine Mitarbeiter behandelt oder stören sich daran, dass gerade dieser Erdorbitalflüge möglich macht. Sie kaufen aber trotzdem bei ihm ein. Auch unter diesen Konsument:innen gibt es eine kritische Elite, die anders agiert – das Gros verliert aber nach wie vor lieber sein Gesicht als Geld. Deswegen dürfen wir uns auch nicht über Skandale wie beispielsweise dem größten Schlachtbetrieb für Schweine Deutschlands wundern: Quartalsergebnisse dürfen nicht wichtiger als Fairness sein. 

Natürlich kann das einzelne Unternehmen nicht komplett aus dem System ausscheren. Betriebe können aber glaubhaft aufzeigen, dass ihnen gewisse Probleme bewusst sind. Sie können kommunizieren, was sie dagegen tun und wie sie sich in ihrem Handeln von anderen Unternehmen unterscheiden. Diese Maßnahmen müssen allerdings wirklich glaubwürdig sein. Wenn man zum Beispiel nur halb so viel Energie verbraucht wie andere Unternehmen, ist schon eine ganze Menge geschafft. 

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Haltung? Welche Haltung?

Unternehmen werden sich immer auch die Frage stellen müssen, wen das eigene Geschäftsmodell schädigt und welche wahren Kosten für Umwelt und Gesellschaft dadurch entstehen – und das auch in der Darstellung nach außen berücksichtigen. Ihre Kommunikation muss so transparent wie möglich werden und zumindest vermitteln, dass sie ernsthaft an gesellschaftlichen Themen arbeiten sowie bereit sind, sich innovativ weiterzuentwickeln. Werbekampagnen, mit denen das Unternehmen eine klare Stellung bezieht, dürfen sie nicht nur kurzzeitig mit einer ­Haltung schmücken, sondern müssen Werte transportieren, welche das Unternehmen tatsächlich langfristig vorlebt.

Während die Großen oft noch zu sehr mit sich statt mit ihren Konsument:innen beschäftigt sind, ist es noch eine Domäne der Kleinen und der Start-ups, glaubwürdig zu zeigen, welche Haltung sie haben oder wie sie sich positionieren. Nichtsdestotrotz muss nicht jeder Seifenhersteller über seinen Sinn für die Gesellschaft philosophieren. Es reicht völlig aus, zu wissen, was dem Unternehmen wichtig ist und wofür es steht – und vor allem, aus diesen Worten Taten werden zu lassen. Denn für Unternehmen ist es ein schmaler Grat, sich einem Thema wie Nachhaltigkeit zu verschreiben, sich also einen grünen Anstrich zu geben, dann aber nicht stringent danach zu handeln. Bloße Lippenbekenntnisse reichen irgendwann nicht mehr aus, weshalb bei vielen Konsument:innen eine potenzielle Skepsis gegenüber den Produktmärchen der Werbung erhalten bleibt.

Der Teufel liegt im Detail

Begriffe wie nachhaltig, klimaneutral, emissionsfrei, bio, vegan, palmölfrei, plastikfrei, fair trade, grüne E-Mobilität – man könnte hier noch weiter machen –, sind in den letzten Jahren sehr modern geworden und verkommen in diesem Zuge zu Gummibegriffen, die freudig wiederverwendet werden. Klar, viele Unternehmen arbeiten wirklich daran, ihre CO₂-Emissionen zu reduzieren oder ressourcenschonend zu arbeiten – dennoch gibt es große Unterschiede zwischen der grünen Öffentlichkeitsarbeit und dem tatsächlichen Handeln.

Nehmen wir den Begriff »klimaneutral«. Er suggeriert: Was während Produktion und Lieferung eines Produktes passiert, hat keine negativen Effekte für das Klima. Es wäre also kein CO₂-Ausstoß, kein Ausstoß klimaschädlicher Gase, damit verbunden. Das ist so nicht ganz richtig. Denn das Paket kommt im Regelfall nicht aus der Region, sondern aus Übersee, wird in einen Transporter geladen, durch die halbe Republik transportiert, in einem Auto – oft mit Verbrennungsmotor – ausgeliefert. Konsument:innen packen es anschließend aus und werfen möglicherweise das im Vergleich zum Produkt überdimensionierte Verpackungsmaterial weg, ganz gleich, ob Plastik oder Papier. Am Ende des Tages ist die Gesamtheit dieses Prozesses mal mehr und mal weniger umweltbelastend, aber eins ist es mit Sicherheit nicht: klimaneutral. Letztendlich wird zum Ausgleich irgendwo anders in der Welt ein Baum gepflanzt, der in seiner Lebenszeit CO₂ bindet. Das wird dann gegengerechnet, um sich Klimaneutralität einzukaufen. Ganz einfach also.

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Auf der einen Seite gibt es für die Automobilindustrie laut Werbemaßnahmen keinen Planeten B oder die »earth« soll »cool again« gemacht werden. Also bewerben Verbände und Unternehmen klimaneutrale und nachhaltige Mobilität. Auf der anderen Seite kämpfen sie bei der EU in Brüssel für schwächere Klimaregeln und bremsen so die Verkehrswende aus. Auf der Weltklimakonferenz in Glasgow verpflichtete sich beispielsweise nur ein deutscher Autohersteller, auf den führenden Märkten spätestens 2035 nur noch Autos mit E-Antrieb auf den Markt zu bringen. Oder besser gesagt: Unter den 24 Staaten, die die Erklärung unterschrieben haben, ist keines der wichtigen Auto-Produktionsländer China, USA, Japan und Deutschland. Das liegt auch mit daran, dass es von Seiten der Politik keinen konkreten Plan gibt, die Lade- und Netzinfrastruktur sicherzustellen und sich zu einem kostspieligen Technologiewechsel verpflichtet zu sehen. Dennoch will sich in den USA Kalifornien an der Initiative beteiligen. Na immerhin. Das bedeutet allerdings: Die Unternehmen spielen weiterhin auf Zeit und lassen sich ein Hintertürchen offen, weil sie insgeheim immer noch an den Verbrenner glauben. Es wird zwar weiter an der E-Fuel-Technologie geforscht, aber gleichzeitig versucht, die Batterieleistung so zu steigern, dass schwere überdimensionierte Automodelle damit ausgerüstet werden können. Statt sich auf kleinere Modelle zu konzentrieren, die sich besser für den Einsatz in Städten eignen würden. Irgendwie passt das nicht so recht zur medienwirksamen Aussage »Wir haben keinen Planeten B«.

Auch die Modeindustrie verspricht, ihren Beitrag zum Thema Re- oder Upcycling zu leisten, indem Unternehmen beispielsweise die alten Schuhe ihrer Kund:innen wiederzuverwerten. Doch in den Recyclinghallen landen nicht nur ausgelatschte Sportschuhe, sondern auch nagelneue Exemplare. Das beweisen Recherchen von ARD, der Wochenzeitung »Die Zeit« und des Recherche-Startups »Flip«: Unter dem Deckmantel des Recyclingprogramms, mit dem sich ein Sportartikelhersteller als besonders nachhaltig darzustellen versucht, wird auch systematisch Neuware, die etwa als Retoure von Kund:innen zurückgeschickt wurde, zerstört. Laut der Recherchen werfen Mitarbeiter einer Recyclingfabrik im belgischen Herenthout neuwertige Schuhe aus solchen Retourensendungen in eine Maschine, in der die Schuhe anschließend geschreddert werden. 

Wie kann das sein, obwohl alle großen Mode-Marken mit grünen Slogans werben? Oder zumindest zwischen den Zeilen die Botschaft vermitteln, sie hätten das Problem erkannt und würden sich darum kümmern? Laut Bundesumweltministerium könnte das Schreddern von neuen Schuhen gegen deutsches Recht verstoßen: Gebrauchstüchtige Retouren zu vernichten ist für Waren, die in Deutschland in den Verkehr gebracht werden, verboten. Es wäre auch ein möglicher Verstoß gegen das Kreislaufwirtschaftsgesetz. Gemäß der Abfallhierarchie hat die Abfallvermeidung oberste Priorität und Vorrang vor allen anderen Entsorgungsmaßnahmen, wie beispielsweise Recycling.

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Die Recherche ist Teil des Projekts »Sneakerjagd«, für das ein Reporterteam von NDR, Die Zeit und Flip GPS-Tracker in Schuhen versteckt und diese auf unterschiedliche Wege entsorgt haben. Ziel ist es, herauszufinden, was wirklich mit alten Schuhen passiert, wenn man sie in Recyclingsysteme von Herstellern und Händlern sowie in Altkleidersammlungen gibt – hier geht’s zum Video

Alles nur Lippenbekenntnisse?

Als Konsument:in hat man dieses merkwürdige Gefühl, die industrialisierte Welt erkaufe sich Zeit, die sie nicht habe, und lenke von tatsächlichen Herausforderungen ab. Ich bin sicher: In Zukunft werden Unternehmen erfolgreicher sein, die ihre ökologischen und sozialen Verpflichtungen ernst nehmen, und darüber mit den Kund:innen in einen Dialog kommen wollen. Die nicht so tun, als hätten sie die Probleme schon gelöst, sondern glaubhaft erklären können, wie sie an dem Problem arbeiten. Ehrlichkeit und Transparenz sind hier das Zauberwort. Denn wie schon am Anfang erwähnt: Erst wenn man genauer hinsieht, löst sich die Superposition auf und man kann die Haltung bestimmen.