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Design Thinking & Testing

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»Ich weiß nur, dass ich nichts weiß.« – Sokrates
»Unwissenheit schützt vor Strafe nicht.« – Rechtsgrundsatz

 

Design Thinking besteht im Kern aus drei Schritten, die man so lange wiederholt, bis das gewünschte Ergebnis eintritt:

  1. Finde das Problem.
  2. Bau eine Lösung.
  3. Schau, ob das Problem gelöst ist.

Im Grunde ist Design Thinking also die Adaption der wissenschaftlichen Methode auf das Lösen eines Problems. Leider wird Design Thinking oftmals auf die Schritte eins und zwei reduziert, da diese klar der spannendere Teil sind: Das empathische Nachfühlen von Bedürfnissen, das detektivische Aufspüren eines Problems hinter einem Problem, die Entwicklung von Hypothesen, der Bau von etwas Neuem, das Tüfteln, das Ausprobieren. Diese Dinge sind – keine Frage – absolut elementar. Aber erst der letzte Schritt, das Testen, verschafft ihnen überhaupt Relevanz.

Es gibt eine interessante Geschichte, die das ganz gut demonstriert: Im Jahr 1912 stieg der österreichische Einwanderer Franz Reichelt auf den Eifelturm, um der Welt seine Erfindung des Fallschirms zu demonstrieren. Er hatte ein Problem ausgemacht: Piloten hatten keinerlei Möglichkeit, sich aus einem abstürzenden Flugzeug zu retten. Und er hatte die richtige Idee für eine Lösung: den Fall eines Menschen durch die Vergrößerung des Luftwiderstands abzubremsen. Inspiriert von den Studien Otto Lilienthals zum Flug der Vögel entwickelte er einen eigenen Prototyp. Er tüftelte jahrelang an dem Design, machte seinen »Fluganzug« immer kleiner und leichter. Er war zweifelsohne ein waschechter Visionär, ein Vorreiter und ein Erfinder, der sich nicht scheute, seiner Erfindung so sehr zu vertrauen, dass er sie selbst und vor Publikum erproben würde. Halb Paris kam an jenem Tag zusammen, um ihm dabei zuzusehen, wie er Luftfahrtgeschichte schreiben würde. Das ist ein Bild von Franz Reichelt mit seinem Fallschirm:

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Wie Sie sehen, sieht der Fallschirm von Franz Reichelt überhaupt nicht so aus wie die Fallschirme, die man heute kennt. Den Grund, warum sich sein Design nicht durchsetzen konnte, hatte einen einfachen Grund: Es funktioniert nicht.

Tragischerweise stellte das Franz Reichelt erst fest, als er bereits von der ersten Plattform des Eifelturms gesprungen war. Nach seinem ungebremsten Aufschlag brachte man ihn in ein Krankenhaus, das nur bestätigen konnte, was allen Zuschauern längst offensichtlich war: Reichelt hatte sein eigenes Experiment nicht überlebt.

Wie sich herausstellte, hatte Franz Reichelt seinen Fallschirm vor seinem verhängnisvollen Sprung nie erfolgreich getestet. Das soll nicht heißen, dass Reichelt seinen Fluganzug gar nicht getestet hat – er warf mehrmals erfolglos Dummys aus Turmfenstern. Jedoch reichte die Fallhöhe nie aus, damit der Fallschirm sich entfalten konnte und die Dummys stürzten ungebremst zu Boden. Reichelt schloss daraus, dass die Fallhöhe höher sein musste (richtig) und dass dies das Problem sei, warum der Fallschirm nicht funktionierte (falsch). Er hatte so viel Hirnschmalz und Mühen in seinen Prototypen investiert, dass er sicher war, er würde wie geplant funktionieren.

Währenddessen waren an den anderen Ecken der Welt ebenfalls mehrere Erfinder dabei, den modernen Fallschirm zu erfinden. Darunter beispielsweise Gleb Kotelnikov, hier auf einer Briefmarke abgebildet:

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Man beachte die nicht-ungebremst-zu-Boden-stürzenden Fallschirmspringer neben seinem Konterfeit. Spoiler: Kotelnikov war im Gegensatz zu Reichelt erfolgreich. Doch was unterschied die beiden Erfinder?

Wie Reichelt testete auch Kotelnikov seine Fallschirme anfangs erfolglos. Wie Reichelt stellte er schnell fest, dass es nicht zielführend ist, Dummys mit Fallschirmen aus Turmfenstern zu werfen, da die Fallhöhe zu gering war, damit sich der Fallschirm überhaupt öffnen konnte. Das war ein Problem, denn Kotelnikov lernte so nichts aus seinen Fehlversuchen. Er wusste nicht, welches Design besser funktionierte, denn alle funktionierten gleich schlecht, nämlich gar nicht. Dann kam der Durchbruch: Er fand eine simple Methode, die Funktionalität eines Fallschirms zu testen, ohne ihn von irgendwelchen hohen Gebäuden zu werfen: Er band ihn auf das Dach seines Autos, gab Vollgas und zog die Reißleine. Dann maß er die Zeit, die es dauerte, bis sich der Fallschirm öffnete und wie stark das Auto dabei abgebremst wurde. Die ersten Ergebnisse waren ernüchternd, doch das war Kotelnikov egal. Denn zum ersten Mal hatte er einen Anhaltspunkt, einen messbaren Erfolgsindikator. Dies waren seine Startwerte, die er nun Schritt für Schritt verbessern wollte. Während Reichelt jahrelang an seinem einen großen Wurf tüftelte, ging Kotelnikov so durch hunderte von Prototypen, jeder ein kleines bisschen besser als der letzte. 1912, kurz vor Reichelts tödlichem Sprung, wurde Kotelnikovs Fallschirm erfolgreich beim Sprung von einem eigens konstruierten Fallturm getestet und daraufhin patentiert. Bereits 1914 retteten seine Fallschirme beim Abschuss eines Spähballons das Leben der Besatzung und wurden in den Folgejahren zur Standardausrüstung.

Was Kotelnikov tat, war nichts anderes als die Quintessenz von Design Thinking: Iteratives Testen. Du wirst vermutlich scheitern, also mach es schnell, billig und lerne etwas dabei – also schrittweise Annäherung statt großer Wurf. Er fand eine Möglichkeit, den Erfolg seiner Fallschirme schnell und billig zu messen. Die KPIs des Fallschirms, nämlich Dauer bis zur Öffnung und Stärke der Abbremsung, konnten so gezielt durch weitere Tests verbessert werden.

Es mag vollkommen hirnrissig sein, einen Fallschirm am eigenen Leib zu erproben, aber dennoch hat Reichelts auch heute noch zahlreiche Nachahmer. Seine Herangehensweise an die Lösung eines Problems ist auch heute noch recht beliebt. So launchte der Einzelhandelsgigant Mark & Spencer vor einigen Jahren seine Website neu. Die Reaktionen waren überschwänglich positiv. »The new Marks & Spencer website, two years in the making, is a feast for the eyes.« schrieb Ben Davis von Econsultancy. Die Seite sei klar «a new benchmark for e-commerce” und ein «Weckruf” an die Konkurrenz. Alle Beteiligten feierten sich für ihren Erfolg. Dann schlugen sie auf.

Die neue Seite performte 8.1% schlechter als die alte. Umsätze rauschten in den Keller und der Aktienkurs folgte. Wie sich herausstellte, hatte man die neue Seite nie erfolgreich getestet. Alle Beteiligten waren so vom Design begeistert, dass es nie einen A/B Test gegen die alte Seite gab. Mark & Spencer hatten einen Reichelt gebaut. Sie waren sich ihrer Erfindung so sicher, dass sie den Sprung ohne Fallnetz wagten.

Die unterliegende Mechanik hinter einem solchen Fiasko liegt auf der Hand: Bis zum großen Knall ist die Methode Reichelt für alle Beteiligten wesentlich angenehmer. Wäre Kotelnikov ein Projektmanager gewesen, so hätte er jahrelang seinem Vorgesetzten jeden Tag von Fehlschlägen berichten müssen – denn das sind gescheiterte Prototypen in der Wahrnehmung häufig: Fehlschläge. Auf die Frage, wann Kotelnikov denn nun endlich einen funktionierenden Fallschirm liefern könnte, hätte dieser nur sagen können: »Er ist fertig, wenn er fertig ist.« Reichelt hingegen könnte jeden Tag zu seinem Vorgesetzten gehen, versichern, dass alles genau nach Plan läuft, das Budget eingehalten wird, und der Fallschirm zum Zeitpunkt X fertig ist.

Ebenfalls tritt hier ein interessanter psychologischer Effekt ein: Je mehr wir bereits in eine Idee investiert haben, desto schwerer fällt es, diese wieder zu verwerfen. Sich einzugestehen, dass sein Ansatz zur Lösung des Problems »Fall aus großer Höhe« nicht der richtige war, hätte für Reichelt bedeutet, die letzten Jahre seines Lebens für wertlos zu erklären. Diese Vorstellung war für Reichelt schlimmer, als die Vorstellung mit einem ungetesteten Fallschirm vom Eifelturm zu springen. Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen.

Churchill schrieb einmal: «Democracy is the worst form of Government – except for all those other forms that have been tried from time to time.” Das gleiche ließe sich über Design Thinking sagen. Es ist ineffizient, schlecht planbar und tut manchmal weh – aber leider ist es auch alternativlos. Die Fragestellungen, mit denen man sich in unserem Feld beschäftigt sind oftmals so komplex, dass es vollkommen unmöglich ist, Vorhersagen zu treffen. Wer behauptet, er habe einen exklusiven Zugang zur Wahrheit, ist entweder ein Lügner oder ein Idiot.

 

Bildquellen:
http://errattonim.ru/?p=2503
https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d5/Flying_tailor.png