Vergessen 4.0 – von Dachböden zu Timelines

ZUR ÜBERSICHT

Das Leben schreibt ja bekanntlich die besten Geschichten – daher möchte ich hier eine private Begebenheit und die Überlegungen, die daraus entstanden, teilen: Kürzlich habe ich ein neues Smartphone gekauft und einen Teil meiner Messenger-Nachrichten übertragen. Einen kurzen Schockmoment hatte ich, als ich sah, dass es bereits bei meinem Zweit-Kanal Signal – der Großteil meines Bekanntenkreises ist leider nicht von WhatsApp wegzubringen – über 10.000 Nachrichten waren. Das waren ehrlicherweise mehr, als ich erwartet hatte.

Ich bekam auch die Funktion angeboten, dass ältere Nachrichten automatisch gelöscht werden, sobald die Unterhaltung eine bestimmte Länge überschreitet. Seitdem denke ich darüber nach, ob ich das tun soll. Ein Teil von mir mag sich von den persönlichen Nachrichten nicht trennen, ein anderer Teil gibt zu bedenken, dass ich alte Nachrichten so gut wie nie nachlese. Selbst die schönen und liebevollen Nachrichten meiner Lieblingsmenschen sind hauptsächlich auf meiner gedanklichen Festplatte gespeichert. Denn wie realistisch ist es, mehrere Jahre zu einem bestimmten Tag zurückzuscrollen – den man ja auch erst herausfinden muss –, um eine bestimmte Nachricht wieder zu finden? In langen Chatverläufen ein Ding der Unmöglichkeit, und selbst Suchen sind nur hilfreich, wenn man sich sehr genau an eine bestimmte Wortwahl erinnert.

Woran müssen wir uns erinnern?

Bei meinen Gedankengängen, die natürlich von Recherchen begleitet sind, finde ich heraus: Vergessen und Erinnern ist in digitaler Hinsicht eine wichtige Debatte. Es gibt bestimmte Informationen, z. B. geschäftliche Vorgänge, die aus rechtlichen Gründen vorgehalten werden müssen. Umgekehrt finden sich in der Datenschutz-Grundverordnung, auch bekannt als DSGVO, in Artikel 17 das Recht auf Vergessenwerden und ein Recht auf Löschung. Letzteres gilt bei personenbezogenen Daten immer dann, wenn diese zum ursprünglichen Verarbeitungszweck nicht mehr nötig sind. Aber auch unabhängig von den gesetzlichen Vorschriften besteht die Möglichkeit, einen Antrag auf Löschung seiner personenbezogenen Daten zu stellen – beispielsweise, wenn unter den Suchmaschinen-Treffern auch Jahre später Links zu früheren Verfehlungen oder Problemen zu finden sind. Aktuell ist diese Regelung noch eher schwammig formuliert. Zumindest spricht sich der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs dafür aus, dass Suchmaschinen Links über religiöse Überzeugungen oder Gesundheitsinformationen einzelner Personen systematisch löschen.

Prinzipiell lassen sich unterschiedliche Interessen erkennen: Die Unternehmen, die möglichst viele Daten zur Verfügung haben möchten – unabhängig davon, wie gut die Qualität von ihnen ist, denn seien wir mal ehrlich, nach einer gewissen Zeit nimmt selbige ab. Menschen ziehen um, interessieren sich für andere Themen, haben neue Freund*innen – natürlich gibt es viele Gewohnheitsmenschen, aber wenn jemand einen Dienst seit Jahren nicht mehr aktiv nutzt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er oder sie nichts mehr davon wissen möchte. Und sich auch mit einer tollen Werbekampagne nicht mehr zurückgewinnen lässt. Die Nutzer*innen haben verschiedene Interessenlagen. Einige möchten es gern komfortabel, sprich eine möglichst lange Vorhaltung ihrer Daten, falls sie nach zehn Jahren doch nochmal eine Flasche Wein bei einem bestimmten Online-Shop bestellen. Einer Umfrage aus dem letzten Jahr zufolge werden Sicherheit und Privatsphäre von den meisten trotzdem um einiges höher eingestuft als der Benutzerkomfort. Die Angst vor Datenklau, Identitätsdiebstahl und Sicherheitslücken ist – nicht unberechtigt – allgegenwärtig. Der Staat steht dazwischen und will zwar die Verbraucher*innen schützen, aber die Wirtschaft auch bei Laune halten. Ganz abgesehen davon, dass sich die Gesetzgebung mit digitalen Gesetzen schwertut.

Das Dilemma fängt schon bei der Datenabgabe an

Und irgendwo dazwischen: Ich, die ich versuche, herauszufinden, was denn eigentlich das Sinnvollste für mich als Privatperson ist. Prinzipiell werde ich schon wütend, wenn ich bei Online-Käufen alle möglichen Daten von Adresse bis Geburtsdatum zwingend angeben muss. Und ja, wahrscheinlich sollte ich das den Unternehmen jeweils auch rückmelden, aber dafür fehlt dann meist die Zeit und die Muße. Analog ist das bisweilen einfacher, weil man ein Gegenüber vor sich hat: Bei meinen Arztbesuchen weigere ich mich mittlerweile, ohne triftigen Grund mein Gewicht anzugeben. Mit einem Online-Formular streitet es sich hingegen ziemlich schlecht und mit Hotline-Mitarbeiter*innen, die selbst nur beim Dienstleister beschäftigt sind und nur ihre Anweisungen befolgen, ebenfalls.

Mittlerweile bin ich dazu übergegangen, an vielen Stellen beispielsweise ein falsches Geburtsdatum anzugeben. Selbstverständlich achte ich darauf, dass die Volljährigkeit bestehen bleibt, aber solange ich keinen triftigen Grund sehe, ein Feld korrekt auszufüllen, mache ich das nicht mehr unbedingt.

Aber das ist ja nur die Vorstufe: Wenn die Daten erst einmal erhoben wurden, ist es aufwändig,

  • sich daran zu erinnern, welche Daten man wo hinterlassen hat, und
  • sie nachträglich wieder löschen zu lassen.

Hier hängt ziemlich viel davon ab, wie gewissenhaft die einzelnen Anbieter ihre Löschfristen einhalten. Sofern es sie überhaupt gibt. Wenn ich mich vor fünfzehn Jahren in einem Blumenzucht-Forum angemeldet habe, gehe ich davon aus, dass ich mich nach wie vor einloggen könnte. Gerade bei Projekten, die ehrenamtlich in der Freizeit umgesetzt werden, möchte ich den Betreiber*innen aber keinen Vorwurf machen.

Es gibt auch Menschen, die sich für Anmeldungen einen willkürlichen zweiten Vornamen ausdenken, um nachvollziehen zu können, welcher Anbieter die Daten für Spam-Mails weitergibt bzw. weitergegeben hat. Das ist zwar etwas aufwändig, aber durchaus ein Schritt in die richtige Richtung. Denn es scheint so, als wäre es unsere eigene Aufgabe, von Zeit zu Zeit unsere Online-Hinterlassenschaften zu sichten und, sofern möglich, aufzuräumen. Digitaler Frühjahrsputz statt Account-Sammelwut also.

Kein Daten-Ende in Sicht?

Und dann gibt es da noch die Daten, die wir völlig freiwillig verteilen: Die Instagram-Fotos, die wir mit Ortsangabe veröffentlichen, der Facebook-Status, der offensichtlich während der Arbeitszeit verfasst wurde, das Snapchat-Video aus dem Schlafzimmer … Zu einem Universum an unfreiwillig verteilten Daten, wozu auch Tracking-Profile vieler Apps gehören, gesellen sich unzählige Lebenszeichen, die wir selbst verteilen. Oft ohne nachzudenken, weil zumindest für viele von uns der digitale Austausch einfach zum Leben dazugehört. Höchstens nach einer feuchtfröhlichen Nacht kommt es vor, dass man seine Postings vom Vortag wieder löscht, aber seitdem wir uns an die Digitalisierung gewöhnt haben, ist das die Ausnahme.

Langsam finde ich das Prinzip, zumindest die Altlasten, die keine Relevanz mehr haben, zu eliminieren, immer interessanter. Bei handgeschriebenen Briefen hat man früher auch alle paar Jahre mal aussortiert und nur ein paar besonders schöne aufgehoben. Unsere Enkelkinder hätten sowieso gar keine Chance mehr, mysteriöse Liebesbriefe auf dem Dachboden zu finden – sie könnten Timelines über Jahrzehnte fast minutiös verfolgen und jegliche Verzauberung wäre dahin. Ich denke, wir müssen eine gewisse Verantwortung dafür entwickeln, dass wir uns für unsere Daten zuständig fühlen. Und sie nach Kräften und Möglichkeiten im Auge behalten, regelmäßig aussortieren und gelegentlich auch mal selbst aktiv werden, wenn wir einen Verstoß bemerken. (Dafür gibt es übrigens zahlreiche Mustervorlagen, die das sehr erleichtern.)

Ich denke ja, dass ich mich in den nächsten Wochen dazu durchringen werde, die älteren Signal-Nachrichten automatisch ins Nirwana zu schicken. Bei WhatsApp bin ich sowieso daran gescheitert, die Nachrichten auf mein neues Handy zu übertragen. Es war am Anfang ziemlich ungewohnt, nicht bis in die Unendlichkeit zurückscrollen zu können. Bis auf ein paar Fotos habe ich seitdem aber nichts vermisst (und diese Fotos lassen sich auch noch auf Backups finden). Insofern bin ich zuversichtlich, dass ich diese erste Aufräumaktion nicht bereuen werde und noch weitere folgen lasse.

autor.

Autorenbild Hanna Hartberger

Beim Jahr 2017 merkte man schnell, dass es politisch denkwürdig werden würde. Hanna wusste, dass sie sich nicht nur wegen berühmter Persönlichkeiten daran erinnern würde. Sie entschied sich nämlich im selben Jahr für einen neuen Karriereschritt und wechselte zu arsmedium ins Content Management.

Wieder zurück in der fränkischen Heimat lebt sie sich hier nun bei verschiedensten Online-Projekten aus. In einem früheren Leben hat sie zwar Buchwissenschaft und Germanistik studiert, aber die Verlockungen des World Wide Web faszinierten sie schon im Studium, bis sie ihnen im Laufe ihres Arbeitslebens völlig erlag. Die zertifizierte Online-Marketing-Managerin ist sowieso der Ansicht, dass zwischen Internet und Verlagswesen keine allzu großen Unterschiede bestehen – guter Content hat in beiden Bereichen die besten Chancen, sich durchzusetzen. Getreu diesem Motto kennt sich Hanna mit Content-Erstellung jeglicher Art aus und stellt den neuen Content am liebsten auch gleich online. Selbst wenn die x-te Änderungsrunde einer Seite diskutiert wird, kann sie das nicht aus der Ruhe bringen, denn:

»Nichts ist beständiger als der Wandel.«
Heraklit, vielleicht auch Charles Darwin

Auch das private Interessenspektrum unserer Allrounderin ist schier unendlich: Es reicht von Fotografie bis Menschenrechte, von Feminismus bis Low-Carb-Backen, von Serien-Binge-Watching bis Bloggen. Und natürlich möchte sie irgendwann die Weltherrschaft erringen.

Content Management